Essay: Psychotechnik und Meyerholds Biomechanik
(Caspar Clemens Mierau)

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zum Seminar: „Psychotechniken der Kunst“

 

Vorwort:

Im Folgenden handelt es sich um das Fragment eines Referatsskripts. Quellenangaben fehlen, fettgedruckte Wörter wurden für den Vortrag markiert.

 

 
Einleitung

 

Wenn Münsterberg über die Psychotechnik spricht, erscheint alles so einfach: Lehrer, Anwälte, Prediger, Künstler – alle sind sie Psychotechniker, vereint durch die Absicht, mit kausalen psychologischen Mitteln etwas zu bewegen, verändern. Dieser Annahme folgend, wollen wir nun das Theater und die Theorie russischen Theatertheoretikers, Dramaturgen, Regisseurs und Schauspielers Meyerhold aus der Perspektive der Psychotechnik beleuchten.

Psychotechnik, so Münsterberg, „ist die Wissenschaft von der praktischen Anwendung der Psychologie im Sinne der Kulturaufgaben“. Möchten wir Meyerhold im Kreis dieser Theorie verorten, müssen wir zunächst dieser Definition etwas näher rücken und die drei Teile: Wissenschaft, Psychologie und Kulturaufgabe zumindest provisorisch erklären.

1.) Wissenschaft, so könnten wir vorerst lapidar formulieren, ist das, was nichtunwissenschaftlich ist. Eine Tautologie zwar, aber sie soll uns mit einem Verweis auf Stichworte wie Exaktheit, Wiederholbarkeit, Beweisbarkeit genügen, um den Bereich der Wissenschaftsphilosophie hier zeitsparend ausklammern zu können. Im Blick auf Meyerhold wird uns also die Frage interessieren, inwiefern der Theatermacher nicht unwissenschaftlich arbeitete und seine Arbeit theoretisch oder auch praktisch untermauerte.

2.) Unter einer praktischen Anwendung der Psychologie sind nach Münsterberg Strategien zu verstehen, mit denen zielgerichtet psychische Änderungen hervorgerufen werden. Während der Psychotechniker zwar um die psychischeBeschaffenheit seiner Objekte oder politisch korrekter formuliert: Subjekte wissen muss, wie der Chemiker um die Zusammensetzung seiner Reagenzien, versucht er nicht wie der Freudianer sich einer rückwärts erklärenden Spurensuche hinzugeben, sondern zukünftige Zustandsänderungen hervorrufen zu können.

3.) Zur Erklärung des denkwürdigen Begriffs Kulturaufgabe sei hier vereinfachend das Anliegen und die (in Klammern politische) Intention dargestellt. Dass gerade im Russland des frühen 20. Jahrhunderts Kunst ihrem Hedonismus und dem Bereich des Schönen entrissen wurde, ist hinreichend bekannt und wurde hier schon mehrfach diskutiert.

Fallen wir also mit der Tür ins Haus und zeigen auf das Offensichtliche: Meyerholds Biomechanik ist durchdrungen vom Taylorismus. Dass das Kapitalismus-affine Scientific Management des US-Amerikaners Frederick Winslow Taylor nachhaltig auch im russischen Sprachraum die Arbeitswissenschaften prägte, haben wir bereits in den letzten Sitzungen wiederholt besprochen. Für Meyerhold, der sich namentlich auf Taylor beruft, war die Tätigkeit des Schauspielers mit der des Arbeiters in einer Fabrik nahezu uneingeschränkt gleichsetzbar, wenn er sagt: „Das Taylor-System ist in der Arbeit des Schauspielers ebenso anwendbar wie in jeder anderen Arbeit, wo nach maximaler Produktion gestrebt wird […] Das Taylor-System ermöglicht uns, in einer Stunde so viel zu spielen, wie wir jetzt in vier Stunden geben können.“

Über die Bedeutung eines Schauspiels, dass nach maximaler Produktion strebt, können wir vielleicht später diskutieren, konzentrieren wollen wir uns jetzt auf den Versuch, den Taylorismus mit der Psychotechnik in Zusammenhang zu bringen, um über diese Hintertür wieder beim biomechanischen Theater zu landen. War Taylor ein Psychotechniker?

Stellen wir die Frage lieber andersrum: War Münsterberg ein Tayloraner? Glaubt man seinen eigenen Schriften: Ja. Ja, Münsterberg war von der positiven Wirkung des Taylorismus sowohl auf die Produktionsrate als auch auf die Psyche des Arbeiters überzeugt. Wir erinnern uns, dass das Diktat der geringsten Anstrengung in taylorisierten Arbeitsabläufen galt und nicht die inhumane Ausbeutung. (Hinweis: Langeweile, weniger Identifikation etc…) Doch ich möchte nicht auf etwaige Ungereimtheiten als vielmehr auf den klaren Unterschied zwischen Taylor und Münsterberg hinweisen: Während beide an Techniken zur Steigerung von Produktion arbeiteten, konzentriert sich Taylor auf extern messbare Einheiten und deren statistische Auswertung sowie Optimierung, während Münsterberg sich in den intrinsischen Bereich der Psychologie begibt. Was der eine extern misst, auf Kärtchen erfasst und zur Richtlinie vorgibt wird beim anderen zur Stimulierung oder Irritation im Luhmannschen Sinne. (Eine systemtheoretischeBetrachtung der Psychotechnik wäre sicher auch interessant… Systemische Managementtheorien…)

Und so findet sich auch heute noch ein interessantes Nebeneinander der Namen Münsterberg und Taylor. In wissenschaftlichen Arbeiten über Organisationsentwicklung finden sich Hinweise auf Zeitstudien (also Taylor) und stimulative Arbeitsgestaltung (Münsterberg) eng nebeneinander. Stellen wir also die Behauptung auf, Arbeitswissenschaften und Psychotechnik bauen nicht hierarchisch oder historisch aufeinander auf, sondern ergänzen sich von zwei verschiedenen Polen. Externe und interne Faktoren der Arbeitsgestaltung können so abgedeckt werden.

Ausgestattet mit dieser Dichotomie kehren wir zurück zu Meyerhold, um unseren Fokus auf sein Werk erneut scharfzustellen. Wenn Taylorismus das nicht ist, was Psychotechnik ist, dann müssen wir möglicherweise genau das vorerst beiseite schieben, was gerade an Meyerhold vordergründig interessant erscheint: Die arbeitswissenschaftlich durchstilisierte Optimierung der Arbeitsabläufe.

Doch an welchem Punkt könnten Überlegungen im Hinblick auf die Psychotechnik bei Meyerhold dann ansetzen? Da gäbe es den Punkt der Emotionen. Meyerhold, Schüler Stanislavskis, wandte sich entschieden gegen den emotionalen Naturalismus seines Lehrers. Stanislavski verfolgte das Ziel, durch eine gefühlte Identifikation des Schauspielers eine innere und äußere Authentizität der Inszenierung zu erreichen. Der Schauspieler bei Stanislavski durchläuft ein gedankliches und gefühltes Training – ganz im Gegensatz zu Meyerhold. Der argumentierte, dass die Gefühle des Schauspielers für den Zuschauer letztlich irrelevant seien und vielmehr die Körpersprache des Schauspielers expressiv und nutzbar sei.

Wir nähern uns den Psychotechniken des Dispositivs Theater. Der Regisseur hat ein Anliegen, nennen wir es Kulturaufgabe – gerade im revolutionären Russland des frühen 20. Jahrhunderts, das er durch praktisch-psychologische Mittel erreichen will. Er möchte den Zuschauer beeinflussen, ihm etwas mitteilen oder ihn gar zu einer Handlungmotivieren. Beide – Stanislavski und Meyerhold – verfolgen dieses Ziel, allein die Wahl der Instrumente ist eine andere. So können wir Meyerhold also als zielgerichtet arbeitenden Theatermacher darstellen, der auf psychotechnische Verfahren zurückgreift. Doch wie genau sehen diese Mittel aus?

Meyerhold versetzt sich in die Lage des Zuschauers. Was sieht er? Wie wirkt der Schauspieler auf ihn? Was bedeuten externe Ausdrucksformen und interne Gefühle des Schauspielers? Die Expressivität des Darstellers wird als Werkzeug angesehen, das es perfektionieren gilt. Die Assoziation des Schauspielers mit einem Instrument soll dabei weder verletzend noch ignorant als vielmehr der Biomechanik entsprechend wirken. So wie der Fließbandarbeiter bei Ford zum Instrument am Gerät wird, rationalisiert und entindividualisiert Meyerhold die Bühne. Das große Lieben und Morden weicht der optimalen Bewegung. Es wird entzaubert. Das Dispositiv Theater blendet sich ein und spielt selbst mit. (Forderung: Bühne muss sichtbar bleiben… Brecht… V-Effekte…)

Es geht dabei um eine doppelte Entlastung. Entlastet werden sollen Psyche und Körper des Schauspielers, wie auch die Aufnahmefähigkeit des Zuschauers. Die Psyche des Schauspielers muss frei sein von Mitgefühl, der Körper harmonisiert mit dem Raum und der Zuschauer wird nicht abgelenkt. Den nichtlinearen Wissenschaften unserer Zeit vorgreifend unterstreicht Meyerhold, dass auch die geringste Anspannung des Schauspielers sich auf dessen ganzen Körper und damit seinen Ausdruck auswirkt. (Verweis auf Chaostheorie… Schmetterling) Es bedarf einer kontinuierlichen Übung der Körperbeherrschung. Während Taylor hier allerdings vom Arbeiter nur das Studium der geforderten Bewegungsabläufe verlangt, muss im biomechanischen Theater neben Inszenierungs-spezifischen Abläufen auch eine allgemeine Körperbeherrschung erarbeitet werden.

Trotz dieser vermeintlichen Freiheit hat der Schauspieler sich letztlich der Inszenierung unterzuordnen und muss sich vom Wunsch nach Individualismus verabschieden (das heißgeliebte Solo…). Kehren wir zu den Psychotechniken zurück, finden wir nun zwei Parteien, die es zu stimulieren gilt. Da wäre der Schauspieler, der mittels recht exakter Vorschriften zu einem Ergebnis geführt werden soll, mit dem dann der Zuschauer wiederum beeinflusst werden kann. Das Objekt der einen Technik wird somit zum Subjekt oder besser doch: Instrument der anderen. Zur effektiven Stimulation des Publikums muss zunächst das Reagenz der Inszenierung selbst angefertigt werden. Was sich da auf der Bühne abspielt könnte somit vielleicht als psychotechnische Doppelstrategie interpretiert werden, die iterativ sich selbst voraussetzt.

Erinnern wir uns wieder an die DichotomieTaylorismus ó Psychotechnik, haben wir es hier mit einer interessanten Verbindung der beiden zu tun. Die Arbeitswissenschaft dient dabei als formal strukturgebendes Element für die Psychotechnik. Das Nebeneinander erscheint hier als Konglomerat der beiden. Doch etwas stimmt noch nicht an diesem Gebilde – es ist die Rolle des Gefühls.

Bei Taylor, das scheint evident, wird die emotionale Lage des Arbeiters vernachlässigt. Was zählt, sind Zahlen und deren rechnerische Optimierung. Und auch bei Meyerhold findet sich, wie schon angedeutet, ein bewusster Verzicht auf die Empfindsamkeit des Akteurs. Was bei Stanislavski Methode ist, gilt hier als störendes Element. Doch bei all dieser Rationalität und Rationalisierung kann auch Meyerhold sich letztlich nicht vom Gefühl trennen – im Gegenteil. Er verlangt seinen Schauspielern ein Körper- und Raumgefühl ab, das sich nur schwer in exakten Begriffen beschreiben lässt (praktisches Wissen? schwer nachzubilden aus Aufzeichnungen?). Immer wieder wird ein Gefühl für Räumlichkeit, Orientierung und Positionierung verlangt, geübt und genau hier liegt vielleicht ein Bruch, den wir nicht vernachlässigen sollten.

Die emotionale Distanz des Schauspielers zur Rolle, wie die Distanz des Zuschauers zur Virtualität der Bühne baut nicht zuletzt auf weiche Faktoren wie die Erfühlung des Raumes und kann sich damit gerade nicht vollständig von dem emanzipieren, was Meyerhold historischüberholen möchte. Ein bisschen Stanislavski steckt eben doch in seinem Schüler und das gerade in dem Punkt in dem die beiden sich so sehr unterscheiden.

Doch dieses Argument lässt sich noch weiter treiben, wenn man Meyerholds Annahme, dass die geringste Anspannung des Körpers sich auf seine Gesamtheit auswirke, näher betrachtet. Was hier als exakt wissenschaftlich betrachtet werden kann, lässt sich ebenso leicht in eine universelle Körperinterpretation – Stichwort Totalitätsprinzip – überführen. Exakte Disziplin der Biomechanik oder aber Metaphysik des Körpers.

Meyerholds Ansatz ist demnach ganzheitlich. Diese Ganzheitlichkeit aber wird erreicht durch Aussparung und Selbstkontrolle und somit durch eine sie vordergründig konterkarierende Strategie. Dass dieses Paradoxon zumindest auf der Bühne eine erstaunliche Professionalität ausstrahlt, war soeben im Dokumentarfilm zu sehen. Aktuelle Tanztheaterinszenierungen wie die erfolgreichen Stücke der Choreographin Sasha Waltz profitieren auch heute noch von der Kraft perfektionierter Bewegungsabläufe („Allee der Kosmonauten“).

Da wir gerade in der Gegenwart angekommen sind, sei en passant erwähnt, dass Biomechanik heute ein sehr aktuelles Forschungsgebiet fernab des Theaters bezeichnet, dessen Spuren sich bis zu da Vinci zurückverfolgen lassen. (Verweis auf Bionik)

Doch lassen wir uns nicht ablenken und versuchen das bisherige zusammenzufassen:

Möchte man Meyerhold aus psychotechnischer Sicht interpretieren, ist es hilfreich, sich die Definition Münsterbergs zu vergegenwärtigen. Es fällt recht leicht, Meyerhold dabei eine wissenschaftlich- (siehe Video) praktische Anwendung der Psychologie im Sinne von Kulturaufgaben zu unterstellen. Ausgehend von der DichotomieTaylorismus ó Psychotechnik können bei Meyerhold Anlehnungen an beide Theorien gefunden werden.

Die Psychotechnik wirkt dabei in zwei Richtungen: Einerseits sollen die Schauspieler auf die Bühne vorbereitet werden, um während der Vorstellung dann auf den Zuschauer zu wirken. Die Voraussetzung der einen ist somit das Zwischenergebnis der anderen.

Emotionen und Gefühle spielen dabei eine paradoxe Rolle. Durch ihre Aussparung im rechten Augenblick soll eine Ganzheitlichkeit erreicht werden, der man eigentlich doch gerade deren omnipräsente Anwesenheit zuschreiben möchte.

Meyerhold greift jedenfalls zu seiner Zeit auf eine sehr moderne Form der Organisation zurück. Noch ungebrochen verspricht der Taylorismus das Erreichen hochgesteckter Ziele. Da Meyerhold die Kunst im Allgemeinen und das Theater im Speziellen für überlebensnotwendig hielt, war ihm an einer effizienten Schauspielerei gelegen (viele Aufführungen… wenig Erholungspausen…)

Mit Foucault ließe sich an dieser Stelle sicher einhaken und das Theater Meyerholds in einer Tradition seit dem 17. Jahrhundert zunehmender Körperbeherrschung – im Sinne des Wortes – verorten. Was im biomechanischen Theater durchexerziert wird, ist Biomacht par excellence.

Eine andere Macht geht hier noch von der Bühne aus. Auch wenn Meyerhold dem Zuschauer eine aktive Rolle bei der Aufnahme und inneren Weiterentwicklung des Stückes zugesteht, löst er die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum nicht auf. (Weiterentwicklung … Psychotechnik…)