Referat: Bruno Latour "Der Berliner Schlüssel"
(Caspar Clemens Mierau)

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zum Seminar: Kunst und Experiment, 10.6.2004, Dozentin: Magarethe Vöhringer
   


Vorwort:

Im Folgenden handelt es sich lediglich um die Vorbereitung eines Referats. Fußnoten fehlen also vollständig und die Argumentationskette ist nicht zwingend stringent.


Wenn Claude Bernard 1865 das Experiment als die Kunst bezeichnet, „zuverlässige, genau determinierte Erfahrungen zu erhalten“, (S. 17) dann werden wir heute hellhörig. Wir, damit sei der wissenschaftstheoretische Diskurs im Allgemeinen, aber auch dieses Seminar im Speziellen gemeint. Spätestens seit der Hacking-Lektüre hegen wir Zweifel an der bei Bernard die das Experiment nahezu metaphysisch durchdringenden Logik.

Dennoch vermag Hackings „Die Wissenschaft führt ihr Eigenleben“ sicher wohl kaum noch faszinieren. „Was nicht“, mag man da in postmoderner Melancholie antworten und das Thema abhaken oder aber doch dem „practical turn“ folgend das schier grenzenlose Untersuchungsfeld der materiellen Manifestationen experimenteller Tätigkeiten aufgreifen und sich nicht mehr mit der Analyse bewusst getätigter Äußerungen und deren Verschriftlichungen begnügen. Die neuere Wissenschaftsforschung, so haben wir in den letzten Sitzungen erkannt, fokussiert sich nicht mehr auf Veröffentlichungen, sondern untersucht die Praktiken der Konstruktion, die medialen Techniken der Repräsentation und die Diskurse der Vermittlung, die den Wissensobjekten inhärent sind. Erinnert sei dabei an die Diskrepanz von Bernards klar nachvollziehbarer Selbstdarstellung in seinen Schriften und den Laborberichten, die ein ganz anderes Licht auf seine experimentelle Arbeit wirft.

Im Folgenden sei dem Landsmann Bernards – Bruno Latour – unterstellt, dass er eben dieses Unterfangen antritt: Wissenschaftstheoretische Betrachtungen, die nicht den Fabeln folgen, sondern Spurensuche am Objekt betreiben. (GINZBURG/LYOTARD)

Einleitend ist zu Latour sicher anzumerken, dass seine Schriften zur Wissenschaftsgeschichte und -theorie derzeit wohl in den Werkzeugkasten dieser Disziplin aber auch der Kulturwissenschaften gehören. Exemplarisch kann auf den Text „drawing things together“ verwiesen werden, in dem das Konzept der „immutable mobiles“ entwickelt wird. „immutable mobiles“, so lässt sich vielleicht zusammenfassen, sind Wissenschaftsdinge, die sich durch ihre Unveränderlichkeit und Mobilität auszeichnen. Diese Dinge interessieren auch in diesem Seminar – lassen sich Kunst und Experiment gleichermaßen auch als Produzenten von eben solchen Dingen interpretieren. In Latours „Berliner Schlüssel“, dem wir uns nun zuwenden wollen, haben wir es gleich mit mehreren immutable mobiles zu tun: Einem Schlüssel, einem Schloss und nicht zuletzt dem Text selbst. Doch lassen wir uns nicht ablenken:

1912 meldete der Schlossermeister Johann Schweiger mit seiner gerade von ihm übernommen und in Berlin-Wedding ansässigen Türschließer-Firma „Kerfin“ das Patent für ein verblüffendes Türschloss an: Das System Schweiger, Kerfin-Schloss, Berliner Durchsteckschlüssel, Berliner Durchsteckschloß oder auch Berliner Schlüssel genannte System. Auch heute noch finden sich in Berlin Haustüren, die mit dem Kerfin-Schloss ausgestattet sind und den Bewohnern einiges Fingerspitzengefühl abverlangen

Allen rhetorischen Raffinessen zum Trotz wollen wir der Pointe vorgreifen und uns die Funktionsweise des Berliner Schlüssels vorab verständlich machen:

Gegeben seien zu Beginn zwei Dopplungen: Ein Schlüssel mit zwei Bärten und ein Schloss mit zwei Schlüssellöchern. BILD Da mag ein Zusammenhang existieren, nur fragt sich, welchen Sinn dieses Setting wohl machen kann. Welche Aufgabe kann ein Schloss erfüllen, dass diesen Aufbau erforderlich macht?

SCHLOSS ZEIGEN

• Fragestellung: „Was für ein seltsames Ding ist das?“ (S. 41)hrfgh
• Untersuchung des Objektes (Drehen, Wenden, Anschauen)
• Hoffnung auf das Schloss – noch mehr Verwirrung: Zwei Schlüssellöcher
• Schließen – Tür öffnet sich, aber Schlüssel kommt nicht mehr heraus, nur nach Abschließen („Was für eine Dummheit!“ - kein Briefkasten!)
• Schlüssel nach Schließen durch das Schloss durchstecken, Schlüssel nicht abziehbar
• Tür aufschließen, Schlüssel durchstecken, Tür abschließen, Schlüssel abziehen (Anleitung? Hilfe?)
• Demonstration an offener Tür gelingt nicht (Schloss blockiert)
• Hauswart mit Spezialschlüssel

Nach diesen verschlungenen Wegen zur Erkenntnis sollten wir die Möglichkeit ergreifen, Claude Bernard zu diesem Experiment zu befragen. Handelt es sich um ein Experiment? Warum nicht... Eine Wissenschaftlerin befragt ein Objekt nach dessen Wahrheit. Mit etwas Phantasie erklären wir das Schloss zu einem Ding in der die Forscherin umgebenden Natur – auch wenn es sich eigentlich um ein technisches Artefakt handelt. Lässt sich der Verlauf dieses Experiments mit Bernard erklären? Eine schwierige Frage, die einen näheren Blick auf Bernards „Einführung in das Studium der experimentellen Medizin“ verlangt.

Die Forscherin, so könnten wir argumentieren, tritt im vorliegenden Fall nicht einfach in die Rolle der Beobachterin zurück, sondern unternimmt aktiv Versuche, indem sie selbst Beobachtungen provoziert. Wir erinnern uns, dass Bernard zwischen der reinen Beobachtung und dem aktiven Experiment unterschied, dass letztlich eine Beobachtung herbeirufen soll, die unter natürlichen Bedingungen nicht ohne weiteres getätigt werden kann. Schwieriger gestaltet sich die Zuordnung in die bei Bernard nicht glücklich ausdifferenzierten Arten von Experimenten. Bernard unterschied nach dem Ausgangspunkt des Experimentators – hat er bereits eine Idee oder Theorie, die es nur noch zu bestätigen gilt oder muss er mit dem Fragenstellen beginnen?

Das Fragenstellen vor der Idee unterminiert das Logik-Phantasma Bernards zu einem gewissen Teil und so versucht er auch diesem Bereich einen Anstrich zu geben, der dem historischen Verständnis von Wissenschaft würdig zu sein scheint:

„Aber in solchen Fällen kann man sich nur nach einer Art von Intuition richten, je nach der Wahrscheinlichkeit, die sich aus dem Wahrgenommenen ergibt, und auch wenn der Gegenstand völlig dunkel und unerforscht ist, darf der Physiologe sich nicht scheuen, auf gut Glück vorzugehen und etwas zu unternehmen, was ich volkstümlich als Fischen im Trüben bezeichnen möchte. Damit will ich sagen, er darf hoffen, inmitten der funktionellen Störungen, die er hervorruft, einen unvorhergesehenen Vorgang zu finden, der ihm einen Gedanken eingibt, in welche Richtung er seine Forschung lenken soll.“

Doch selbst das „Fischen im Trüben“ bleibt bei Bernard irgendwie auratisch, um mit Benjamin zu sprechen. Eine Notlösung, nicht der Normalfall, erwähnenswert, aber nicht den hohen Wissenschaften würdig. Und unsere Wissenschaftlerin? Welche Strategie verfolgt sie? Sie fischt. Oder besser noch: Sie stochert. Stolpernd von Idee zu Idee, stochert sie mit dem doppelbärtigen Schlüssel so lang im Schlüsselloch herum, bis sie sich oft genug selbst widerlegen konnte, um der Wahrheit des Schlosses letztlich auf die Schliche zu kommen.

Doch es soll nicht abwertend klingen, sie des Fischens oder Stocherns zu bezichtigen. Wohl aber konterkariert die Arbeit unserer Wissenschaftlerin die Hoffnungen Bernards auf eine saubere, logisch nachvollziehbare Problemlösungsstrategie. Seien wir ehrlich und geben eine gewisse Enttäuschung zu. Warum konnte sie nicht Schlüssel und Schlüsselloch in Augenschein nehmen, eventuell das Schloss sezieren und dann einer Eingebung eines deus ex folgend eine Theorie des Berliner Schlüssels entwerfen, die sich durch Experiment vor Ort belegen ließe? Dieser deus ex tritt zwar auf im Latour-Text, er entthront aber die Archäologin, indem mit einer gewissen Beliebigkeit Gründe für die Lösung des Rätsels aufgezählt werden: „jemand hat es ihr gezeigt; sie hat irgendeine Gebrauchsanweisung gelesen; sie hat lange genug damit herumprobiert; ein hilfsbereiter Mensch kam gerade vorbei punkt punkt punkt“ und hiernach sogleich der Hauswart.

Ist der Text also wissenschaftskritisch? Wird die Wissenschaftlerin vorgeführt? Bruno Latour bekennt sich als Liebhaber der Wissenschaften und trotz einer vielleicht ironischen Note des Textes wird das Experiment „Berliner Schlüssel“ von einer liebevollen Bewunderung des Wissen-Wollens durchdrungen. Detailgetreu wird der Episteme eines Frage- und Antwortspiels nachgegangen, das letztlich gut ausgeht. Hans-Jörg Rheinberger, dessen Name die heutige Seminarsitzung begleitet, würde sagen, dass der Text nicht in den hohen Sälen der Wissenschaften, sondern in der abscheulichen Küche, im Hinterzimmer, in einem von materieller Kultur geprägten Wissenschaftsalltag angesiedelt ist. Und auch das, ohne einen abwertenden Beigeschmack.

Rheinberger, der im deutschsprachigen Raum zu den wichtigsten Wissenschaftstheoretikern zählt und bereits mehrmals an unserer Universität zu Gast war, leistet uns mit seiner Bernard-Analyse vorzügliche Schützenhilfe. Ausgehend von der Diskrepanz zwischen Bernards Veröffentlichungen und privaten Notizen zeichnet Rheinberger die Paradoxie der Selbststilisierung des Wissenschaftlers nach. Der Gang der Forschung, so Rheinberger, sei eben nicht logisch deduzierbar, sondern bleibe auf produktive Momente angewiesen, an denen sich anderes zeige, das aus dem Vorherigen nicht einfach abgeleitet werden könne. Die Wissenschaft ist also bruchhaft und erfüllt im Alltag eben jenen Anspruch nicht, dem die von ihr behandelten Sujets folgen müssen: Strenger Logik.

ab hier keine weiteren vorformulierten Notizen...


Rheinberger, das sei noch angemerkt, entwickelt eine Theorie des Experimentalsystems, indem er den autarken Wissenschaftler aus seiner Isolation herauslöst und in einem dynamischen System verortet, das auf gegenseitiger

Vernachlässigen des Technikphilosophie und Machtdiskurs

„Ein Künstler weiß nie, wie er zu seinen Sachen kommt. Desgleichen weiß ein Wissenschaftler nicht, wie er die Spur seiner Dinge findet. Man muss finden, und zwar genau da wo es nichts mehr zu wissen gibt.“ (Claude Bernard)




 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Quellen