Seminar: Evolutionstheorien - Dozent: Armin Schäfer (29.6.04) | |
Im Folgenden handelt es sich lediglich um die Vorbereitung eines Referats. Fußnoten fehlen nahezu vollständig und der Stil ist einem mündlichen Vortrag angepasst.
„Keine Theorie erreicht das Konkrete“ so Luhmann. Diesem Freibrief folgend, wollen wir im Folgenden einen theoretischen Einstieg in die systemische Evolutionstheorie versuchen und dabei insbesondere eine kulturwissenschaftliche Perspektive, oder dem Topos sprachlich angemessener: Beobachterposition, einnehmen. Niklas Luhmanns Abhandlungen über die Evolution organischer, gesellschaftlicher und kultureller Systeme rekurrieren auf eine intensive Darwin-Lektüre, sowie die sicher bekannten Verbindungen zu den Neurobiologen Maturana und Varela, denen nicht zuletzt eine Gründerrolle in der modernen Systemtheorie nachgesagt wird. Luhmann und seinen chilenischen Kollegen dabei (orthodoxen) Neodarwinismus zu unterstellen ist jedoch eine kaum empfehlenswerte Herangehensweise. Tasten wir uns also noch einmal stichpunktartig an die Neuauflage der Darwinschen Theorien heran. Man kann vielleicht folgende drei Thesen zusammenfassen:
Im Neodarwinismus wird letztlich die Umwelt als Kriterium der Selektion und Fitness immer schon voraussetzt. Man könnte es vielleicht als hierarchisch strukturierten Druck ex machina darstellen, der ein extern determiniertes Selektionsmuster auferlegt. Dem gegenüber steht eine vorsichtig als „ganzheitlich“ zu umschreibende Auffassung der Beziehung von Systemen zu ihrer Umwelt: “The
environment is not a structure imposed on living beings from the outside
but is in fact a creation of those beings. […] Just as there is
no organism without an environment, so there is no environment without
an organism.” Dupuy/Varela Mit akademischen Siebenmeilenstiefeln nähern wir uns Luhmann und es muss eingeräumt werden, dass zu einer korrekt wissenschaftlich ausgearbeiteten Analyse systemtheoretischer Theorien sicher eine beinahe lexikalische Definition von Grundbegriffen wie Autopoiesis, Differenz, Umwelt und nicht zuletzt System gehört, auf die an dieser Stelle in ihrer Gänze und mit gutem Gewissen ob der Vermeidung von Redundanz verzichtet werden soll. Verwiesen sei noch einmal mal auf Luhmanns eigene Einführungen in sein Werk, sowie kanonische Anhäufungen exemplarisch systemisch verlinkter Begriffserklärungen in der Sekundärliteratur wie dem „Luhmann-Lexikon“. Zur heutigen Stunde gab es die vorsichtige Bitte, einen Abschnitt aus Luhmanns „Wissenschaft der Gesellschaft“ zu lesen. Wer sich auf das Experiment eingelassen hat, wird recht schnell die geschickte Wahl des Buchtitels erkannt haben, der mit seinen mindestens zwei Bedeutungen einen großen Bogen spannt. Uns soll vor allem die Übertragung evolutionstheoretischer Modellierungen auf kulturwissenschaftliche Fragestellungen interessieren. Das Kapitel „Evolution“ bietet dafür einen guten Ausgangspunkt, als es eben nicht originär von Evolution handelt, sondern sich spiralenförmig einer allgemeinen Kulturtheorie am Beispiel der Evolution wissenschaftlicher Wahrheiten nähert. Paradigmatisch ist hier die These, dass Evolution kein Prozess ist. Prozesstheorien, so schreibt Luhmann an anderer Stelle, „sind selbstreferentiell gebaut insofern, als sie zur Erklärung des Späteren auf Früheres verweisen und dies Frühere, wenn sie es seinerseits erklären wollen, wiederum auf Früheres zurückführen müssen, um schließlich bei einem Anfang zu enden, der als Grund und Bedingung der Möglichkeit des Prozesses fungiert“. (A151) (Ob ein Verweis auf Nietzsche an dieser Stelle erhellend oder eher doch verwirrend ist, wird sich vielleicht am Anschluss diskutieren lassen). Erklärend sei jedenfalls das Luhmannsche Beispiel alteuropäischer Lerntheorie herausgegriffen, in der die Erfahrung (empeiria) das Gelernthaben als Bedingung der Möglichkeit des Lernens voraussetzte. (A195) Der zeitlich irreversible Prozess gewinnt dabei ausgehend von der Physik und ihrer statistischen Thermodynamik an Schärfe bzw. entropischer Unschärfe und strahlt bis heute in periphere Wissenschaften ab. Doch eben die Vorstellung kontinuierlicher, irreversibler unilinearer Kausalprozesse hält Luhmann für nicht haltbar und setzt ihnen eine emphatische Relektüre Darwins entgegen. Als essentiell unterstrichen werden die Begriffe Variation, Selektion und Stabilisierung von Merkmalen. Evolution ist dann jede Strukturveränderung, die durch das Zusammenspiel eben dieser Mechanismen erzeugt wird und somit charakterisiert ist durch die Art und Weise der Selbstproduktion. Nähern wir uns damit wieder dem kulturwissenschaftlichen Fokus, stoßen wir auf den nicht gerade unproblematischen Kommunikationsbegriff Luhmanns, wie bereits Ernst von Glasersfeld anmerkte. Problematisch weil ihm trotz seiner Abwendung von einer paketorientierten Vermittlung der Kommunikation in der Alter-Ego-Selektion ein recht vektorielles Modell der Informationsübertragung inhärent ist. Hervorstechend jedoch ist die These der Kommunikation als Selektionsofferte. Kommunikation im Allgemeinen, letztlich Luhmanns Grundbaustein der Gesellschaft, und Sprache im Speziellen stellen dabei ein vielschichtiges Selektionssystem dar. Dem einzelnen psychischen System wird eine autarke Entscheidungsposition oder Selektionsfähigkeit abgesprochen, da es selbst rekursiv in die Kommunikation eingebunden ist. Im Wissenschaftssystem lässt sich die sprachliche Selektion anhand ganz manifester institutionalisierter Gefüge aufzeigen, die den „editorial process“ vorantreiben – nehmen wir als Beispiel der Selektion die mögliche Veröffentlichung oder Nichtveröffentlichung in einem einflussreichen Magazin wie „Nature“ – aber auch der Einfluss verbaler Kommunikation auf die wissenschaftliche Leitunterscheidung richtig/falsch ist nicht zu vernachlässigen. Entscheidend ist also nicht mehr der höchste objektive Wahrheitsgehalt oder die Fitness einer Theorie, sondern ein vom System selbst nicht festlegbarer Rahmen für Wiederholung bzw. Nichtwiederholung des Sagbaren. (W577) Die evolutionäre Selektion des Wissens wird demzufolge als binäre Attachierung der Symbole wahr/unwahr und Produktion kommunikabler, das heißt vor allem wiederholbarer, Wahrheiten in den scientific community vorgenommen. Doch wie kann die Mutation wahrgenommen werden? Mit dem Term „Zufall“ lässt sich sicher einiges andeuten, aber letztlich doch unzufriedenstellend metaphysisch. Was also ist der Zufall der Variation? Luhmann versucht das Nichtvorhersagbare der spontanen Zufälligkeit zu entreißen und in den systemischen Kontext einzubinden. Zufall ist dann der Zustand der Nichtkoordinationen von Systemen mit ihrer Umwelt. Eine ernüchternde Sichtweise eines bis dato überraschenden Moments. Zufall ist also „immer eine Fiktion, eine Realität zwar, aber nur eine real funktionierende Unterstellung“. (W563f) Zufall ist daher nicht mehr Unvorhersagbarkeit, sondern die Unterbrechung systemischer Interdependenzen und die Fähigkeit des Systems auf diese weder vorhergesehenen noch produzierten Reizungen angemessen zu reagieren. Im Falle des Wissens stellt sich die permanente Reizung als wahrnehmbare Komplexität dar, die es durch den Aufbau eigener Komplexität abzubauen gilt. (klar? - Medizin) Evolution greift dabei als gleichzeitige Realisierung und Derealisierung von Möglichkeiten ein. Nicht alles Mögliche wird somit entgegen historischer Sichtweisen verwirklicht – im Gegenteil. Und nicht selten werden im Laufe wissenschaftlicher Rückblicke als unwahr klassifizierte Aussagen wieder aufgegriffen und erneut in den binären Zuschreibungsprozess injiziert. „Die systemtheoretische Evolutionsanalyse spricht sich gegen die Externalisierung von Gründen, Zwecken und Ursachen aus evolutionären Prozessen aus, um sie statt dessen auf der Basis systemischer Selbstorganisation zu internalisieren“. (B194). Obwohl die systemeigene Umwelt durch Unterbrechung einen Variationshorizont zur Verfügung stellt, kommen evolutionäre Entwicklungen ausschließlich über systemrelevante Selektionsentscheidungen zustande. (Beachte Ambivalenz des Terms „systemeigene Umwelt“!) - Evolution wird letztlich auf die Rolle des Beobachters zugeschrieben, der willkürliche Limitierungen zur Markierungen eines evolutionären Abschnittes vornehmen kann, aber höchstens Spuren hinterlässt und keine Eigenschaften des Zeitverlaufs offen legt. Abschließend sei der Versuch gestattet, einige kritische Punkte an der systemischen Evolutionstheorie aufzuzeigen. Als Makro- oder Supertheorie versteht es die Systemtheorie natürlich vorzüglich, sich pauschaler Kritik zu entziehen. Vernachlässigen wir an dieser Stelle als angehende Medienkulturwissenschaftler die Problematisierung des Luhmannschen Kommunikations- und Medienbegriffs, und schränken uns auf eine entwicklungstheoretische Perspektive ein. Hier aber liegt es nahe, durch Luhmanns engen Bezug auf Darwin eben jene Kritik aufzufrischen, die bereits an Darwin geäußert wurde. Es stellt sich zunächst die Frage, warum Luhmann ausgerechnet den, wie vorhin schon angesprochenen, unglücklichen Begriff der Selektion gewählt hat. Die „natural selection“ war als solche eine sicher hervorragend anschauliche Metapher. Von der Verschränkung mit einem merkwürdig anmutendem, vielleicht gar göttlichen ex machina kann sich die Selektion aber bis heute nicht lösen. Der Selektion ist immer ein selektierendes Subjekt inne und eben dieses findet in der Systemtheorie eigentlich keinen Platz. Möglicherweise liegt aber bei Luhmann auch jene grenzenlose Erweiterung der Darwinschen Theorie vor, die Schnackertz der Dehnbarkeit der Darwinschen Metaphern zuschreibt, oder wie er es formuliert „mit ihren nur schwer kontrollierbaren Assoziationen ist hingegen eine unspezifische Anwendung Darwinscher Konzepte geradezu vorprogrammiert“. (Schnackertz) So ist die Unternehmung einer Rettung Darwinscher Theorie möglicherweise durch die Verwendung bzw. Übernahme der Zentralmetaphern ein akademischer Bärendienst. Die „Evolution der Evolution“, die so wortwörtlich konstatiert wird, wird im selben Moment scheinbar völlig ignoriert. Lehnen wir uns noch weiter aus dem Fenster und versuchen den, man verzeihe mir die etwas platte Redewendung, vielleicht wissenschaftlichen Elfmeter, Luhmann Metaphysik zu unterstellen. Trotz aller Beteuerungen Luhmanns gerade eine Abwendung von dem metaphysischen Glanz zu bringen, ist dies anderen Theoretikern wie Derrida, dessen Dekonstruktivismus übrigens sehr interessante Schnittstellen mit der Systemtheorie gemein hat, besser gelungen. Der Zauber des Systemgedankens, der, mit Benjamin gesprochen, auratisch die Rezeption der Systemtheorie erhellt, geht nicht zuletzt auf die Unternehmung zurück, die Welt in ihrer Gänze mit wenigen Begriffen zu erklären. Was Luhmann da unternimmt übertrumpft möglicherweise die kühnsten Träume der härtesten Metaphysiker. Gerade in Luhmanns tautologisch dezidierter Beschreibung der Evolution unterstützen ganzheitliche Begriffe wie Selektion und der konsequente Verzicht auf Empirie, die wir bei Darwin ja noch finden, jene metaphysischen Momente, deren Existenz gewünschte Diskontinuitäten auflösen. Trotz alledem
– die Abstraktionsleistung der Systemtheorie zur Schaffung einer
allgemeinen Evolutionstheorie ist bemerkenswert und bietet einen Werkzeugkasten
zur entwicklungsanalytischen Betrachtung von Themengebieten in der eine
Evolution bisher nur festgestellt wurde. Dabei greift Luhmann auf ein
Nebeneinander dreier Theorien zurück, deren literarische Umschreibung
ich abschließend niemandem vorenthalten möchte: „Wirft
man drei Steine gleichzeitig in den Brunnen, entstehen sehr rasch, sobald
nämlich die Wellen sich kreuzen, unübersichtliche Verhältnisse.
Solche Überschneidungen sind in unserem Falle der Gesellschaftstheorie
unvermeidlich. Wie immer abstrakt man eine allgemeine Systemtheorie,
eine allgemeine Evolutionstheorie und eine allgemeine Kommunikationstheorie
formulieren kann – auf der spezifisch soziologischen Ebene der
Gesellschaftstheorie sind alle drei Theoriekomponenten notwendig und
setzen sich wechselseitig voraus. Deshalb hat es auf dieser Ebene, wie
immer bei notwendigen Interdependenzen, keinen Sinn zu fragen, ob die
eine dieser Theorien fundamentaler ist als die andere. Weder Hierarchisierungen
werden uns helfen noch das beliebte Spiel der Dichotomien: Bestand oder
Wandel, Struktur oder Prozeß, Konsens oder Konflikt. Das eine
setzt das andere voraus – und nach einer Weile sagt man das gleiche
umgekehrt.“ (A196f)
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Quellen | |
p.s.: ordentliche Quellenangaben mit Jahreszahlen und Ort werden folgen
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