Reaktionsexperimente

 
Ablauf

 

  • 0.) Einleitung
  • 1.) erste Messungen der Geschwindigkeit der Gedanken
  • 2.) "Astronomers Mark Time" - die persönliche Gleichung
  • 3.) weiteres Interesse an präziser Zeitmessung
  • 4.) das Chronoskop
  • 5.) experimentelle Schwierigkeiten
  • 6.) verschiedene Reize
  • 7.) Personen
  • 8.) Das Hipp'sche Chronoskop
  • 9.) Thesen
  • Quellen

Dieser Vortrag wurde gehalten am 16. Mai 2002 im Seminar "Die Psyche unter Experimentalbedingungen" an der Bauhaus-Universität Weimar. Einige der verwendeten Bilder sind leider ohne Quellenangabe. Da es sich hier nicht um eine wissenschaftliche Arbeit handelt, möge es der Leser verzeihen.

 

 
0.) Einleitung 

 

"Unter den Instrumenten des Astronomen nimmt auch das Nervensystem des Beobachters seine Stelle ein, dessen so zu sagen instrumentale Abweichungen zu bestimmen von gleicher Wichtigkeit ist, als die Fehler jedes anderen von uns angewandten Instrumentes zu ermitteln."
(Adolph Hirsch)

"No-one knew at the time, why there should be these individual differences."
(Edwin Boring)

 "the personal equation is measuring a psychological phenomenon"
(Wilhelm Wundt)

 "Das Gesicht fasst etwas rascher auf als das Gehör und der Tastsinn."
(Wilhelm Wundt)

 

 
1.) erste Messungen der Geschwindigkeit der Gedanken

 

  • Physiologe Valentin: lesen eines Textes, Auszählung der Buchstaben, Errechnung eines Mittels zur Wahrnehmung eines Buchstabens (1/30s bis 1/15s)
  • Karl Ernst von Baer: Kritik an Valentin, da Worte in einer bekannten Sprache als Ganzes erfasst werden, Korrektur des Ergebnisses auf 1/10s bis 1/6s, Analogie der Wahrnehmbarkeit eines Sturzes

 

Reaktionszeitmesser mit Glocke
2.) "Astronomers Mark Time" - die persönliche Gleichung

 

  • Vorgang der Zeitmessung in Sternwarten erforderte bereits Ende des 18. Jhrs. geringe oder bekannte Reaktionszeiten der Forscher
  • Prägung des Begriffs "persönliche Gleichung" (interindividuelle Differenz) für individuelle Unterschiede durch den Astronomen Friedrich Bessel
  • Bedarf für Messung persönlicher Reaktionszeiten zur Präzisierung der Zeitmessung
  • technische Voraussetzungen für die Entwicklung von Präzisionszeitmessern gegeben (Galvanische Elemente, Feinmechanik)
  • Übergang von der Messung relativer Unterschiede zu absoluten Werten
  • Astronomie als Motor für die experimentelle Psychologie
  • 1961 spricht Wundt in einem Vortrag das erste Mal sein Interesse an der persönlichen Gleichen, insbesondere an dem Unterschied zwischen der Wahrnehmung von Gesicht und Gehör

 

historische Zeitmesser
3.) weiteres Interesse an präziser Zeitmessung

 

  • Militär: Ballistik
  • Militär: Nautik
  • Technologie: Vermessung von Telegraphenlinien
  • Technologie: Verschlusszeiten von Relais
  • Physik: Fallgesetze

 

Messung des Fallgesetzes
4.) Das Chronoskop

 

  • Chronoskop: ("Zeitseher") Zeitmesser zur Erfassung kleinster Zeiteinheiten ( ... Stoppuhr)
  • Vorformen und andere Apparaturen: Chronographen, Registrierapparate, Noematachographen, Noematachometer, Psychodometer usf. - größter Unterschied zur chronographischen Methode mit einer berußten Walze
  • Wheatstone'sches Modell: Gewichtuhr ohne Pendel, deren Ankerhemmung durch Schalter losgelassen und angehalten werden konnte, Nachteil: Uhrwerk muss sich zu Beginn der Messung in Gang setzen
  • Hipp entwickelt das englische Modell weiter - Uhrwerk dreht sich bereits vor Messbeginn, Zeigerwerk wurde vom Uhrwerk abgetrennt
  • große Teile der Messgeräte werden entmechanisiert - Geschwindigkeit des elektrischen Stroms wird nutzbar gemacht (z.B. chronoskopische Modelle, die einen elektrischen Funkenschlag zur Aufzeichnung nutzen)
  • das H.C. setzte sich als Standard durch, unter anderem durch die massive Nutzung und wissenschaftliche Erwähnung in der Leipziger Schule um Wundt und die lobenden Worte Hirschs (komfortabler als die chronographische Methode)
  • eine große Rolle spielte die Stimmgabel als Zeitgeber (Frequenz)
 
 
5.) experimentelle Schwierigkeiten

 

  • Interpretation: gemessene Zeit gleich Gedankengeschwindigkeit? Reaktionszeit? Sind Gedanken unendlich Zeit und es wird die Geschwindigkeit der Nervenbahnen bestimmt? Entsteht eine Summe aus beidem?
  • "philosophische" Voraussetzungen bestimmen Interpretation in großem Maße (z.B. Theatermetapher des Gehirns als Schauspiel)
  • experimentelle Vorüberlegungen oft unzureichend (z.B. Vergessen der Schallgeschwindigkeit)
  • Unzulänglichkeiten der Instrumente: eigene Trägheit, eigene Ungenauigkeit (Wundt entwickelte ein Gerät zur Eichung von Chronoskopen: Kontrollhammer nach Wundt)
  • Unsicherheit über die günstigste experimentelle Umgebung (z.B. Soundproof Chamber)
  • unerwünschte Nebeneffekte des elektrischen Stroms (z.B. Magnetisierung von Eisenteilen)

 

the soundproof chamberKontrollhammer nach Wundt
6) verschiedene Reize

 

  • optische Reize (z.B. elektrischer Funke)
  • akustische Reize (z.B. Aufprall einer Kugel)
  • Reizung der Haut (z.B. Kriechströme)
  • Kombinationen (z.B. "sehbare" Glocke)

 

Phonograph?Versuchsaufbau nach Hirsch/Wundt
7) Personen

 

  • Sir Charles Wheatstone (1802 bis 1875): Physiker, entwickelte 1842 Chronoskop zur Bestimmung der Geschwindigkeit von Geschossen
  • Matthias Hipp (1813 - 1893): Uhrmacher und Mechaniker (z.B. Telegraphie), baute 1847 das Hipp'sche Chronoskop als Weiterentwicklung des Wheatstone'schen Modells, H.C. nahezu unverändert bis 1980 gebaut
  • Hermann Ludwig Ferdinand von Helmholtz (1821 - 1894): berühmter Mediziner und Naturwissenschaftler, maß die Fortpflanzungsgeschwindigkeit eines Nervenreizes (beim Tier)
  • Adolph Hirsch (1830 - 1901): Astronom, Freund von Hipp, untersuchte systematisch die Nervengeschwindigkeiten des Menschen
  • Franciscus Cornelis Donders (1818 - 1889): Physiologe und Augenarzt, untersuchte die Geschwindigkeit des Gedankens (durch Subtraktionsmethode)
  • Wilhelm Wundt (1832 - 1920): Psychologe und Philosoph, gründete in Leipzig das erste Institut für experimentelle Psychologie, Vertreter der empirischen Psychologie (Abwendung von zerebraler Lokalisation)

"Sur les conseils de Du Bois-Reymond, le physiologiste allemand Hermann (von) Helmholtz (1821-1894) sera le premier en 1850 à établir la vitesse de conduction nerveuse chez l'animal. Par la suite, l'astronome germano-suisse Adolph Hirsch (1830-1901) sera le premier (en 1862) à établir la vitesse de conduction nerveuse chez l'homme ; le physiologiste Franciscus Cornelis Donders (1818-1889) sera le premier (en 1868) à établir la mesure de vitesse de la pensée avant que sa méthode soustractive soit systématiquement utilisée par le physiologiste et psychologue expérimentaliste allemand Wilhelm Wundt (1832-1920) et ses élèves."
(Quelle: Psychologie et Histoire, 2001, vol. 2, 148-173.)

 

 
8.) Das Hipp'sche Chronoskop

 

  • Gewicht als gleichmäßiger Antrieb
  • Start und Stopp des Uhrwerks durch Seilzüge
  • Uhrwerk vom Zeigerwerk getrennt
  • Start und Stopp des Zeigerwerks durch elektromagnetisch steuerbare Ankerhemmung
  • zwei Zeiger zeigen je Tausendstel und Zehntelsekunden
  • Als Echappement (Hemmung) dient eine justierbare Ankerhemmung, die 1000 Hertz schwingt
  • erste Formen des Hipp'schen Chronoskops konnten nur die Zeit der Stromunterbrechung, das verbesserte Modell 88 auch die Zeit der Stromzuführung messen
  • eigene Trägheit des Geräts äußerst Gering
  • Probleme anfangs hauptsächlich mit der Magnetisierung (wurde Umgangen durch Pohl'sche Wippe)
  • Genauigkeit von 1/1000s schon um 1850 messbar...

 

Detailaufnahmen des Hipp'schen Chronoskops
Uhrwerk des Hipp'schen Chronoskops

9.) Thesen

 

  • Reaktionsexperimente sind die Geburt der experimentellen Psychologie.
  • Reaktionsexperimente stellen die wissenschaftliche Genealogie von der Physik und Astronomie über die Philosophie zur Physiologie dar.
  • Reaktionsexperimente haben einen Hang zum Didaktischen.
  • Reaktionsexperimente können durch falsche oder voreilige Schüsse negative Folgen haben. (z.B. Einstellungstests)

 

Quellen

 

  • Schulze, Rudolf (1909) "Aus der Werkstatt der experimentellen Psychologie und Pädagogik", Leipzig (R. Voigtländer Verlag)
  • Nicolas, Serge und Ferrand, Ludovic: "La Psychométrie Sensorielle au XIXe Siècle" in "Psychologie et Histoire, 2001, vol. 2, 148-173" elektronisch veröffentlicht unter http://lpe.psycho.univ-paris5.fr/membres/nicolas/Introc.htm [Stand:19.03.2002]
  • Oelschläger, W. (1848) "Das Wheatstone'sche Chronoskop, verbessert vom Uhrmacher Hipp in Reutlingen" in "Polytechnisches Journal 110" (1848) hrsg. von Dr. Johann Gottfried Dingler und Emil Maximilian Dingler, Stuttgart (Verlag J.G. Cotta'schen Buchhandlung)
  • Oelschläger, W. (1849) "Das Hipp'sche Chronoskop, zur Messung der Fallzeit eines Körpers und zu Versuchen über die Geschwindigkeit der Flintenkugeln" in "Polytechnisches Journal 116" (1849) hrsg. von Dr. Johann Gottfried Dingler und Emil Maximilian Dingler, Stuttgart (Verlag J.G. Cotta'schen Buchhandlung),
  • Schraven, Thomas "Das Chronoskop von Hipp, Entwurf zum Vortrag auf dem Mannerheimer Markt für elektrische Uhren März 2002"
  • "Matthias Hipp" in "Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik 12", Zürich (Verein für wirtschaftshistorische Studien), 1961
  • Meyers Kleines Konversations-Lexikon (1908), Siebte gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage in sechs Bänden, Zweiter Band: Cambridge bis Galizien, Leipzig und Wien (Bibliographisches Institut), 1908
  • Hirsch, Adolph (1865): "Chronoskopische Versuche über die Geschwindigkeit der verschiedenen Sinneseindrücke und der Nerven-Leitung" in "Untersuchungen zur Naturlehre der Menschen und der Thiere 1"(1865),
  • Schmidgen, Henning (2000): "Zur Genealogie der Reaktionsversuch in der experimentellen Psychologie" in "Instrument - Experiment", hrsg. von Christoph Meinel, Berlin (Verlag für Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik)
  • Schaffer, Simon (1988): "Astronomers Mark Time" in "Science in Context 2"

 

Vortragender

 

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